Das verlassene Dorf Lifta mit Ruinen, grüner Vegetation und blauem Himmel im Hintergrund.

Wurzeln in Farbe

Eine künstlerische Reise nach Palästina

Was hält uns, wenn unsere Wurzeln verloren gehen? Wie lässt sich Geschichte spüren, wenn sie nicht selbst erlebt wurde, aber tief im Inneren nachhallt?

Eine kleine Geschichte

Jedes Mal, wenn mein Vater mit uns nach Palästina reiste, brachte er uns – wenn es möglich war – an diesen einen besonderen Ort: zu seinem Elternhaus in Lifta, einem Vorort von Jerusalem. Ein Pilgerort für uns. 

An einem schönen Tag bin ich mit meinem Vater von der Altstadt Jerusalems zu Fuß nach Lifta gegangen – das sind ca. 5 Kilometer. Wir gingen an Geschäften vorbei, an Häusern, Mauern, Gassen. Und mit jedem Ort, den wir passierten, begann mein Vater zu erzählen: von Menschen, die dort gelebt hatten, von Geräuschen, Gerüchen, Momenten aus einer Zeit, die in ihm weiterlebte. 

Je näher wir Lifta kamen, desto mehr veränderte sich etwas in ihm. Sein Schritt wurde schneller, fester. Er lachte mehr, seine Augen strahlten. Er ging, als wäre er wieder ein Junge. Leicht, lebendig, voller Erwartung und Hoffnung. Ich sah ihn an – und erkannte in ihm das Kind, das er einst war.

Angekommen vor dem Elternhaus in Lifta, wiederholte sich immer dasselbe Ritual: ein leises Anklopfen an die Tür. Ein tiefes Einatmen, ein nachdenklicher, wissender Blick. Die Tür öffnete sich – langsam, vorsichtig. Der Bewohner des Hauses blickte ihm in die Augen. Mein Vater sagte sanft, fast flüsternd: „Guten Tag, ich bin Dr. Isa Salameh. Wissen Sie, dass das mein Elternhaus ist? Ich habe hier mit meiner Familie gelebt.“ Ein kurzer Moment des Schweigens. Dann kam die Antwort – immer dieselbe, immer anders: „Ich weiß. Aber … was soll ich tun?“ Mein Vater senkte den Blick – doch in Wahrheit sah er nicht zu Boden, sondern tief in die Erinnerung. In diesen Sekunden schwang alles mit: Verlust, Heimat, Ohnmacht, Würde. Und ich stand daneben – Kind, Zeugin, Trägerin der Geschichte.

Lifta

Im Jahr 1948 wurde mein Vater und seine Familie aus Lifta vertrieben. Diese Vertreibung am 15.5.1948 – genannt Nakba („die Katastrophe) – hinterließ tiefe Spuren, nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen, sondern auch in den nachfolgenden Generationen. Dieses transgenerationale Trauma lebt in Geschichten, Erinnerungen und unausgesprochenen Emotionen vieler palästinensischer Familien weiter.

Das mittlerweile entvölkerte Dorf liegt westlich von Jerusalem. Vor der Nakba 1948 war es eines der größten und wohlhabendsten Dörfer Palästinas – bekannt für seine strategische Lage, den Reichtum und die Bildung seiner Bewohner. Die Menschen in Lifta waren stolz, kultiviert und stark miteinander verbunden.

Am 28. Dezember 1947 wurde eines der beiden Kaffeehäuser des Dorfes von der zionistischen Stern-Gruppierung mit Maschinengewehren beschossen. Mehrere Menschen starben. Im Januar des folgenden Jahres kam es zu einem weiteren Angriff, woraufhin alle Bewohner Liftas vertrieben wurden.

Die Vertreibung meines Vaters war nicht nur ein historisches Ereignis, sondern ein prägender Moment, der auch in mir weiterlebt – durch Erzählungen, durch Schweigen, durch Emotionen, die schwer greifbar, aber deutlich spürbar sind. Als Tochter eines Vertriebenen trage ich nicht nur biografische Spuren, sondern auch eine emotionale Codierung eines Verlustes, der nie vollständig betrauert oder integriert werden konnte.

Warum ich nach Palästina reiste

Ich wollte dieser Verbindung nachgehen – vor Ort, im direkten Dialog mit der Geschichte – und so beschloss ich im Jahr 2022 nach Palästina zu reisen. Es ging um eine Auseinandersetzung mit dem Schmerz der Vertreibung, dem Verlust des Landes, dem Alltag unter Besatzung – und darum, wie all das in mir weiterwirkt. Kunst war mein Werkzeug, um diesen inneren wie äußeren Prozess sichtbar zu machen. Indem ich die Erde Palästinas in meine Bilder einarbeitete, konnte ich eine Form des Erinnerns schaffen, die über das Erzählen hinausgeht. Diese Reise war nicht nur eine Rückkehr zu familiären Wurzeln, sondern auch ein künstlerischer Akt der Verankerung – gegen das Vergessen.

Für mich war immer klar, dass ich mich eines Tages künstlerisch damit auseinandersetzen werde. Als Künstlerin beschäftige ich mich mit Herkunft, Identität, Intuition und Verwurzelung. Vor allem stelle ich mich der Herausforderung, dem Gefühl des Entwurzeltseins wieder Wurzeln zu geben. Meine abstrakten Werke entstehen eben nicht nur im Atelier, sondern auch an besonderen Orten – mit natürlichen Materialien wie Erde und Sand. Ein künstlerischer Prozess, der nicht nur visuell, sondern auch physisch mit dem Land verbunden ist.

Ich breitete meine Leinwand nicht nur in Lifta aus – getrieben von meiner Liebe zur Stille der Wüste malte ich etwa auch in Mar Saba, einem Kloster welches sich in einer wilden, felsigen Schlucht befindet. Es ist eines der ältesten und beeindruckendsten noch bewohnten Klöster der Welt (gegründet im 5. Jahrhundert). In der ländlichen Nähe Hebrons fand ich meinen zweiten Malort – ein Ort, der für mich von besonderer Bedeutung ist, da meine Familie mütterlicherseits aus Hebron stammt.

Trauma

Mit dem 7. Oktober 2023 wurde eine alte, tiefe Wunde wieder aufgerissen. Ein ganzes Volk durchlebt eine Retraumatisierung, die bis heute unaufhaltsam an Tiefe und Schmerz gewinnt. Die psychischen und kollektiven Folgen sind bis heute nicht absehbar.

Erinnerung weitertragen

Vertreibung bedeutet mehr als den Verlust eines Hauses – es ist der Verlust von Heimat, Sicherheit, Identität und Zugehörigkeit. Wenn solch ein Erlebnis nicht verarbeitet wird, kann es sich unbewusst auf die nächsten Generationen übertragen. Dieses transgenerationale Trauma zeigen sich oft in innerer Unruhe, diffusen Ängsten oder einem starken Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Identität.

Der Inhalt dieser Seite ist mein Versuch, diese Erfahrung zu teilen – nicht als Betrachterin oder Betrachter, sondern als Mitfühlende, als Teil einer größeren Geschichte, die viel älter ist als ich.